Keine Zukunft ohne Erinnerung

Gewerkschafter*innen besuchen sich abwechselnd zu Seminaren

Wie sich Antisemitismus und Rassismus im Bildungsbereich bemerkbar machen und wie Pädagog*innen damit umgehen sollten, war Thema eines deutsch-israelischen Seminars in Berlin. Unter den Teilnehmer*innen waren auch fünf Kolleg*innen aus NRW.
Wenn Israelis und Deutsche Freunde werden

Foto: Peter Draschan/pixelio.de

„Ich kann nicht glauben, dass die Atmosphäre in Berlin so offen ist. Hier scheint alles möglich!“ Ram sitzt neben mir in der Berliner S-Bahn und staunt. Er ist Lehrer in einem kleinen Ort im Norden Israels. Seine Leidenschaft sind das Theaterspiel und die Dichtkunst. Wir befinden uns auf dem Weg zur Ausstellung „7xjung“ in der Nähe von Schloss Bellevue.

Wir, das sind 32 Pädagog*innen aus Deutschland und Israel, die sich für eine Woche in Berlin treffen. Unser Seminarthema: Keine Zukunft ohne Erinnerung – im Mittelpunkt steht die Aufarbeitung des Holocaust, aber auch die Auseinandersetzung mit dem heutigen Antisemitismus und Rassismus und die besondere Verantwortung von Pädagog*innen.

Gewerkschafter*innen aus Deutschland und Israel treffen sich jedes Jahr

Seit nunmehr 49 Jahren findet das gemeinsame Seminar von GEW und der israelischen Lehrer*innengewerkschaft Histadrut HaMorim statt. Was 1967 noch im Zeichen einer Auseinandersetzung mit Schuld und langsamer, vorsichtiger Annäherung stand, ist heute getragen von einer gemeinsamen, zugewandten Atmosphäre und gegenseitigem Vertrauen.

Im zweijährigen Rhythmus treffen sich die Teilnehmer*innen in Israel und Deutschland – diesmal sind wir in Berlin, mitten in der Hauptstadt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung als Mitveranstalterin stellt ihre Seminarräume im Ortsteil Tiergarten zur Verfügung. Auch mitten in der Stadt befindet sich das Hotel, in dem alle untergebracht sind.

Die morgendlichen Spaziergänge vom Hotel zum Tagungsort werden für gemeinsame Unterhaltungen und Zwiegespräche genutzt. In der Regel werden die Vorträge am Vormittag gehalten, am Nachmittag finden Exkursionen statt. „Was für mich das Seminar zu etwas Besonderem macht“, sagt Musiklehrerin Rinat aus Netanya in der Nähe von Tel Aviv, „ist die Tatsache, dass wir keine Experten zu diesem Seminar einladen. Die Profis sind wir: Jeder hier lässt den anderen an dem teilhaben, was er während der Arbeit leistet.“

So sind die Vorträge und Workshops der Veranstaltung so vielfältig wie die Biografien ihrer Teilnehmer*innen: der Vergleich von deutschen und israelischen Schulbüchern, der Einfluss Janus Korczaks in der heutigen Zeit, die Kraft der Musik in Bezug auf die persönliche und nationale Identität oder die Bedeutung utopischer Perspektiven für das politisch-historische Lernen.

Angehörige erleben Sprachlosigkeit von Holocaust-Überlebenden und Täter*innen

Ram, der dichtende Lehrer, hat sich auf das Seminar nicht nur gefreut. „Ich hatte auch Angst, was mich erwartet. Mein Vater ist Überlebender. Er hat nie über das gesprochen, was er erlebt hat. Ich konnte ihn nicht fragen. Es wäre unmöglich gewesen, Deutschland zu besuchen, als er noch gelebt hat. Jetzt ist er seit knapp zwei Jahren verstorben. Dieses Seminar ist für mich eine Reise in meine eigene Vergangenheit. Ich versuche, die Sprachlosigkeit meines Vaters zu überwinden.“ Er schluckt. Auch während seines Vortrags erzählt er von seinem Vater.

In der anschließenden Diskussion meldet sich Monika, eine Lehrerin aus NRW: „Ich kenne diese Sprachlosigkeit. Auch bei uns zu Hause wurde nicht über das gesprochen, was mein Vater während des Krieges im nahegelegenen Internierungslager getan hat. Ich weiß immer noch nicht genau, was dort los war. Mein Vater war Täter. Ich wusste das jahrelang nicht.“ Es sind Momente wie diese, die das Seminar zu etwas ganz Besonderem machen: Die große Bereitschaft, sich persönlich auszutauschen und zu öffnen, wird mit echter Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen belohnt.

Historische Orte rufen Erinnerungen wach

Nicht nur die Referate der Teilnehmer*innen sind beeindruckend und bewegend. Auch das gemeinsame, abwechslungsreiche Programm sorgt für eine gute Atmosphäre. Bei einer Führung durch das Bayerische Viertel in Schöneberg erfahren wir viel über das Projekt „Orte des Erinnerns“, das anti-jüdische Gesetze von 1933 bis 1945 wachruft. Der Gesandte der Israelischen Botschaft, Avraham Nir-Feldklein, besucht unser Seminar und hebt die Bedeutung des Seminars hervor. In der Liebermann-Villa treffen wir durch Zufall deren Direktor, Martin Faass, der uns kurzweilig und in perfektem Englisch über die Geschichte des Hauses von Max Liebermann informiert.

Im Haus der Wannseekonferenz, nicht mal fünf Fußminuten von der Liebermann-Villa entfernt, befassen wir uns unmittelbar mit der Geschichte der Deportation und Ermordung der europäischen Opfer. Die gemeinsam vorbereitete Gedenkzeremonie in der Gedenkstätte Sachsenhausen, an der auch Marlis Tepe als Bundesvorsitzende der GEW teilnimmt, ist für alle berührend.

Ein Gedicht zum Abschied

Am Abschlussabend treffen wir uns im Restaurant Alte Pumpe. Die Stimmung ist gelöst. An allen Tischen sitzen Israelis und Deutsche zusammen, lachen und reden. Ehemalige Seminarteilnehmer*innen sind der Einladung gefolgt und hinzugestoßen. Am späteren Abend singen alle gemeinsam zu Gitarrenklängen. Am nächsten Morgen überreicht Ram mir ein Gedicht. Er hat es während des Seminars geschrieben:

Ram Shteindel, Teilnehmer aus Israel:


Hier

An dem Ort, wo wir miteinander reden

Und wo wir ehrlich zusammentreffen


An dem Ort, wo wir über die schwere Vergangenheit

Und ihre Schrecken sprechen können


An diesem Ort ist es normal für alle

Offen zu sein.


Man kann Hoffnung für die Zukunft haben.

Man kann weitermachen, lächeln und zuversichtlich sein.


Katharina Kaminski, Seminarleiterin und Gewerkschaftssekretärin in der Abteilung Weiterbildung der GEW NRW